Max Czollek: Gegenwartsbewältigung Kampf gegen die Dominanzkultur

Sachliteratur

Wenn Theodor W. Adorno gegen Philipp Amthor in den Ring steigt, bekommt die deutsche Leitkultur ordentlich eins auf die Mütze.

Max Czollek bei der Veranstaltung Fokus Lyrik in Frankfurt 2019.
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Max Czollek bei der Veranstaltung Fokus Lyrik in Frankfurt 2019. Foto: Kritzolina (CC BY-SA 4.0)

25. November 2021
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Max Czollek hat mit seiner viel diskutierten Streitschrift „Desintegriert euch!“ schon 2018 einen engagierten, wütenden, ziemlich bissigen, und oft witzigen Aufruf gegen das deutsche „Gedächtnistheater“ (Bodemann 1996) und die Eindimensionalität des hiesigen Integrationsparadigmas geschrieben. In seinem neuen Buch „Gegenwartsbewältigung“ geht die Abrechnung mit der Mehrheitsgesellschaft in die zweite Runde.

Czolleks zweites Buch lässt sich als eine politische Krisenerzählung lesen. Und natürlich ist die grosse Krise seit über einem Jahr die globale Pandemie. Auch der Autor setzt seine Beobachtungen in den Rahmen dieses Szenarios. Diese Rahmung dient ihm aber nicht dazu, alle anderen gesellschaftlichen und sozialen Probleme hinter dieser neuen weltweiten Bedrohung verschwinden zu lassen. Vielmehr treten im gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie für Czollek Themen hervor, die auch sein erstes Buch bestimmten: Wer gehört in unserer Gesellschaft eigentlich dazu? Wer wird von ihr geschützt und wer ausgeschlossen, diskriminiert und unsichtbar gemacht? Wer hat die Mittel dazu, diese Einteilungen vorzunehmen? Und vor allem: Was können wir dagegen tun? Seine Antwort lautet: Radikale Vielfalt. „Das Problem der Gesellschaft ist kein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, sondern ein Mangel an Gefühl dafür, wer zu dieser Gemeinschaft dazugehört.“ (S. 180)

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder: Engagement im Hier und Jetzt

Es gibt ein Problem mit der Zeitlichkeit von Krisenerzählungen. Zum einen sind Krisen meist erst in der Rückschau als solche erkennbar. Zum anderen – und damit verbunden – sind sie, wenn man sie retrospektiv analysiert, immer aus einem Status des bereits Überwundenen beobachtet. In einer solchen Perspektive wird jedes Problem in dem Moment, in dem wir es als solches erkennen, aus der Gegenwart verabschiedet und in die Vergangenheit verlagert. In einem solchen Vorgehen wäre die Gegenwart aus der Analyse gestrichen.

Der jüdische Autor, Theatermacher und Lyriker Max Czollek beweist schon im Titel, dass er dieses Problem ernst nimmt. Vergangenheit muss irgendwie verarbeitet werden, um nicht dieselben Fehler immer und immer wieder zu machen. Das ist nichts Neues. Im Nachhinein weiss es ja ohnehin immer jede*r besser. Der Trick besteht darin, dass auch unsere Gegenwart bearbeitet und vor allem bewältigt werden muss, damit wir in Zukunft gemeinsam in einer Gesellschaft leben, „in der alle gleichermassen und ohne Angst verschieden sein können“ (S. 97). Diesem Projekt verschreibt sich Czollek in seinem zweiten Buch aufs Neue. So sieht eine Krisenerzählung aus, die sich im Hier und Jetzt für eine bessere Zukunft stark macht, ohne dabei die Vergangenheit zu ignorieren.

Falsche Kontinuitäten

Die Themen, die Czollek auf diese Weise zum Kern seiner Reflexion macht, scheinen zunächst wie die Auflistung der Zutaten eben jener klassischen Krisenerzählungen unserer gegenwärtigen Demokratie, die doch so schwierig zu handhaben sind: von der durch völkisches Denken aufgezwungenen Debatte um den Heimatbegriff, die seit Beginn dieses Jahrzehnts immer wieder geführt wird, über die „Hufeisentheorie“ rückständiger Extremismusforscher*innen, für die – allen Belegen zum Trotz – linker und rechter politischer Flügel an den Rändern der Demokratie ja irgendwie dasselbe sind, bis hin zum rechten Terror von Hanau und Halle. Und auch die politischen Ränkespiele der FDP, die sich mit den Stimmen der rechtsextremen AfD in Thüringen eine Regierungsmehrheit sichern wollte, sind als Zeichen dieser Krisenhaftigkeit zu lesen.

In Czolleks Worten: „Die Herausforderung, der sich eine politisch noch lange nicht realisierte plurale Perspektive auf Gesellschaft stellen müsste, wäre die Komplexität des Hasses denken zu lernen.“ (S. 96) Deutlicher kann eine Krisenerzählung kaum ausfallen. Doch der Autor legt kein Klagelied über den Verfall eines politischen Systems vor, sondern räumt stattdessen mit der Vorstellung auf, in einer fernen Vergangenheit sei es einmal besser gewesen. „Keine Nostalgie, niemals.“ (S. 153)

Diese Aufgabe ist bei Czollek verbunden mit einer veränderten Perspektive auf historische Kontinuitäten. Er verabschiedet einige lieb gewonnene Erzählungen eines deutschen „Wir-Gefühls“ und zeigt, dass sich die deutsche Nachkriegszeit keineswegs so homogen ausnimmt, wie die Vertreter*innen einer „Dominanzkultur“ (S. 18) und die Verfechter*innen einer Heimatideologie es gerne hätten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete keineswegs die politische Läuterung der deutschen Bevölkerung, die theatralisch-funktionalistische Inszenierung jüdischen Lebens in Deutschland nach der Shoah keineswegs das Ende des Antisemitismus und die deutsche Wiedervereinigung nicht das Ende der Marginalisierung weiter Teile der hier lebenden Menschen. Es kommt nur auf die Perspektive an. Die Dominanzkultur hat das längst verstanden: „Man malt sich aus, wer man sein will und darum auch gewesen sein muss – und ignoriert alles, was sich nicht entsprechend verhält.“ (S. 34)

Radikale Vielfalt in der postmigrantischen Gesellschaft

In unserer „postmigrantischen Gesellschaft“ (S. 30) muss es nach Czollek eine neue Perspektive auf diese Konstruktion von Gesellschaft geben, die eben danach fragt, wer an ihr Teil hat und wer nicht. Migrant*innen, jüdische, muslimische, homosexuelle und beeinträchtigte Menschen ebenso wie alte weisse Männer und heimatverbundene Grillwürstchenesser*innen. Es ist die Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen und Alltagserfahrungen, die Berücksichtigung der ineinander verwobenen Identitäten, und die Sensibilisierung für Formen der Diskriminierung und des Ausgeschlossenseins, die eine plurale Gesellschaft ermöglicht.

Verweise auf eine vermeintlich „deutsche“ Identität oder Kultur, die als Basis für Zugehörigkeit dienen, sind Fiktionen, die es nie gegeben hat. Debatten um religiöse Zugehörigkeit oder kulturelle Differenzen können nur aus einer Perspektive geführt werden, die Angst vor Unterschieden hat. Es fehlt deshalb, so Czollek, nicht an einer Erzählung von Gemeinschaft, sondern an einem Bekenntnis zur Vielfalt. „Zugehörigkeit zur Gesellschaft entsteht nicht durch kulturelle oder religiöse Anpassung, sondern durch Anerkennung.“ (S. 172) Diese Anerkennung ist das Bekenntnis zur „radikalen Vielfalt“ (S. 158).

Dabei votiert er keineswegs für eine Vereinzelung durch die Betonung individueller Differenzen, sondern arbeitet, wie schon in seinem ersten Essayband, die Möglichkeiten einer breiten Bündnispolitik heraus. Diskriminierung entgegenzutreten ist nicht nur Aufgabe der Betroffenen, sondern muss auch aus privilegierter Position heraus geschehen. Nicht selten findet sich ohnehin beides zugleich in jedem/jeder von uns.

Wrestling und Poesie

Den Leser*innen von „Desintegriert euch!“ werden einige Gedanken Czolleks bekannt vorkommen, auf die der Autor auch selbst immer wieder Bezug nimmt. Aber nicht weniger pointiert, nicht weniger wütend und noch einmal mit viel Witz. Trotz – oder gerade wegen? – der Krisen, die in so vielen Facetten unsere Gegenwart bestimmen und unsere Demokratie bedrohen.

Wenn Czollek die Debatten um die politischen Fragen von Ausgrenzung und Zugehörigkeit, Identität, kultureller Hegemonie, Rassismus und Antisemitismus in einem fiktiven Wrestling-Match zwischen dem CDU-Abgeordneten Philipp Amthor und Theodor W. Adorno verhandelt, kann man nicht anders als laut lachen. Hatte Czollek in seinem ersten Buch die Konzepte „Integrationsparadigma“ - „Gedächtnistheater“, „Leitkultur“ und „Heimatverbundenheit“ schon auf die Matte geschickt, wird mit „Gegenwartsbewältigung“ das Rematch fällig. Doch geschlagen gibt sich die Dominanzkultur noch lange nicht. Man kann sich sicher sein, dass das deutsche Nationalgefühl schon längst wieder Aufwärmübungen macht. Wir warten also auf den Gong zur dritten Runde.

Max Tribukait
kritisch-lesen.de

Max Czollek: Gegenwartsbewältigung. Carl Hanser Verlag, München 2020. 203 Seiten, ca. SFr 24.00. ISBN 978-3-446-26772-5

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